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Körpergewicht in der Gesundheitsförderung: Mehr als nur eine Zahl auf der Waage

Das Thema Körpergewicht spielt eine zentrale Rolle in der Gesundheitsförderung, doch wird es oft auf problematische Weise behandelt. In unserer Gesellschaft herrscht ein tief verankerter Glaube, dass ein geringeres Gewicht automatisch zu besserer Gesundheit führt. Dieser Ansatz ist jedoch nicht nur verkürzt, sondern kann auch Schaden anrichten – insbesondere für Menschen, die Unterstützung und Empathie benötigen.

Wusstest du, dass dicke Menschen selbst von Therapeut:innen oft nicht die Hilfe bekommen, die sie wirklich brauchen? Wenn sie mit Problemen wie Kniebeschwerden, Migräne, Überessen oder einem unerfüllten Kinderwunsch Hilfe suchen, lautet der häufigste Therapieansatz schlicht: „Nehmen Sie ab.“ Dieser Fokus auf Gewichtsverlust reduziert nicht nur die Komplexität der Beschwerden auf eine einzelne Variable, sondern kann auch dazu beitragen, dass ungesunde Verhaltensweisen wie restriktives Essen, Essanfälle oder negative Selbstwahrnehmungen verstärkt werden.

Das Problem mit der Gewichtszentrierung

Wenn das Körpergewicht als Hauptindikator für Gesundheit betrachtet wird, geraten wichtige Aspekte aus dem Blick. Körpergewicht ist ein äußerst komplexer Faktor, der von Genetik, Stoffwechsel, Hormonen, psychischen und sozialen Faktoren beeinflusst wird. Es ist nicht einfach ein Produkt von „Energie rein, Energie raus“. Menschen, die an Übergewicht leiden, sind oft einem enormen gesellschaftlichen Druck ausgesetzt. Die ständige Aufforderung, Gewicht zu verlieren, und die Stigmatisierung, die mit einem höheren Gewicht einhergeht, können dazu führen, dass sich die betroffene Person schämt, überhaupt medizinische oder psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass der Fokus auf Gewichtsreduktion häufig kontraproduktiv ist. Studien zeigen, dass Diäten in den meisten Fällen langfristig nicht funktionieren. Viele Menschen nehmen nach einer Diät wieder zu, oft sogar mehr als zuvor. Dieser sogenannte „Jojo-Effekt“ schadet nicht nur dem Körper, sondern auch der Psyche. Er verstärkt Gefühle des Versagens, der Unzulänglichkeit und kann langfristig das Selbstwertgefühl massiv beeinträchtigen.

Gesundheit ist mehr als das Gewicht

Gesundheit lässt sich nicht allein durch die Zahl auf der Waage definieren. Viel wichtiger sind Aspekte wie Bewegung, Ernährung, mentale Gesundheit, Schlaf und soziale Unterstützung. Eine Person mit höherem Körpergewicht, die sich regelmäßig bewegt, ausgewogen isst und sich emotional wohl fühlt, kann gesünder sein als eine schlanke Person, die sich wenig bewegt, gestresst ist oder eine unausgewogene Ernährung hat.

Das Konzept der „Health at Every Size“ (HAES), übersetzt „Gesundheit in jedem Körpergewicht“, bietet hier eine alternative Perspektive. HAES betont, dass Gesundheit durch Verhaltensänderungen gefördert werden kann, unabhängig von der Körpergröße. Es fordert eine Abkehr von Diäten und gewichtszentrierter Beratung hin zu einem ganzheitlichen Ansatz, der Menschen dabei unterstützt, gesunde und nachhaltige Lebensweisen zu entwickeln.

Die Rolle von Psycholog:innen und Ärzt:innen

Besonders problematisch ist, dass auch im Gesundheitswesen oft ein einseitiger Fokus auf Gewichtsreduktion besteht. Dies führt nicht nur dazu, dass wichtige medizinische oder psychologische Probleme übersehen werden, sondern auch, dass die Bedürfnisse der Patient:innen nicht ernst genommen werden. Wenn eine Person mit Knieproblemen in die Praxis kommt und lediglich den Rat erhält, abzunehmen, bleibt die eigentliche Ursache der Beschwerden häufig unbehandelt. Darüber hinaus vermittelt dieser Ansatz die Botschaft, dass ihr Körper das Problem ist – eine Botschaft, die Scham und Selbstzweifel verstärkt.

Therapeut:innen und Ärzt:innen haben die Verantwortung, ihre Patient:innen ganzheitlich zu betrachten. Das bedeutet, die individuellen Lebensumstände, genetischen Voraussetzungen und psychologischen Hintergründe in den Blick zu nehmen, anstatt den Fokus nur auf das Gewicht zu legen. Sie sollten darauf achten, dass sie keine Gewichtsstigmatisierung betreiben, sondern ihre Patient:innen in einer unterstützenden und wertschätzenden Weise begleiten.

Ein neuer Ansatz für Gesundheitsförderung

Ein gesunder Ansatz in der Gesundheitsförderung sollte darauf abzielen, Verhaltensänderungen zu fördern, die Freude machen und langfristig umsetzbar sind. Bewegung sollte beispielsweise nicht als Mittel zur Gewichtsabnahme präsentiert werden, sondern als Möglichkeit, den Körper zu stärken, Stress abzubauen und Freude zu empfinden. Ernährung sollte nicht in Kategorien von „gut“ und „schlecht“ eingeteilt werden, sondern als eine Quelle von Genuss und Energie betrachtet werden.

Auch der Umgang mit psychischen Belastungen spielt eine entscheidende Rolle. Viele Menschen essen emotional – nicht aus Hunger, sondern um mit Gefühlen wie Stress, Traurigkeit oder Langeweile umzugehen. Anstatt diesen Menschen zu sagen, sie müssten „einfach weniger essen“, sollten Therapeut:innen ihnen helfen, die emotionalen Auslöser zu erkennen und alternative Bewältigungsstrategien zu entwickeln.

Gewicht ist nicht alles

In der Gesundheitsförderung muss ein Umdenken stattfinden. Das Körpergewicht ist nur ein Teilaspekt von Gesundheit und darf nicht als alleiniger Maßstab dienen. Ein ganzheitlicher Ansatz, der den Menschen in seiner Gesamtheit sieht, ist notwendig, um die individuellen Bedürfnisse und Herausforderungen zu berücksichtigen.

Die Aufgabe von Therapeut:innen und Ärzt:innen ist es, Unterstützung zu bieten, die frei von Vorurteilen und Stigmatisierung ist. Nur so können wir eine Gesundheitsförderung schaffen, die wirklich nachhaltig und wirksam ist – für Menschen in jedem Körper, mit jedem Gewicht. Indem wir den Fokus von der Zahl auf der Waage auf das gesamte Wohlbefinden verlagern, schaffen wir einen Raum, in dem Gesundheit nicht nur erreichbar, sondern auch dauerhaft lebbar wird.

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